Fach-Story
Der Leuchtturm
von Sesto San Giovanni
Antonio, du warst beim Projekt in Sesto San Giovanni an vorderster Front mit dabei. Wie kam es zu dieser Anlage?
Antonio: Die kurze Antwort: Die Anlage in Sesto San Giovanni erfüllte ein lange bestehendes Bedürfnis. Für die längere Antwort müssen wir die Geschichte der Klärschlammbehandlung in Italien etwas aufrollen. In Italien war es bisher gang und gäbe, Klärschlämme mehrheitlich in der Landwirtschaft als Düngemittel zu verwenden. Zum Vergleich: In der Schweiz kennt man diese Praxis zwar auch, seit 2006 ist sie aber verboten. In Italien lief diese Haltung weiter. Der grösste Abnehmer von Klärschlämmen in Italien ist mit Abstand die Landwirtschaft in der Lombardei. Hunderttausende von Tonnen pro Jahr werden von der Umgebung, aber auch von ganz Italien, in diese fruchtbare Region transportiert.
Wir machen nun einen Sprung ins Jahr 2016: Die Bevölkerung in Pavia, eine Region im Südwesten der Lombardei, reichte Klage ein. Der Gestank war zu einem echten Problem geworden. Offizielle Untersuchungen ergaben, dass die verwendeten Klärschlämme noch dazu unerlaubte Schadstoffe enthielten. 2017 wurden entsprechend verschärfte Gesetzesvorschriften eingeführt: Neu werden Klärschlämme in Qualitätsstufen unterteilt, wobei nur die qualitativ hochwertigsten als Düngemittel zugelassen sind. Aber das ist noch nicht alles: Nicht nur Gestank oder Zusammensetzung der Klärschlämme war ein Problem, sondern vor allem die schiere Menge!
Wieso war die Menge ein Problem? Verbrennungsanlagen gab es in Italien ja bereits vor Sesto San Giovanni.
Antonio: Natürlich, aber die Ausgangslage nach der Gesetzesanpassung war eine andere. Man muss sich das so vorstellen: Aus der Abwasserreinigung entstehen ca. 450.000 Tonnen ziviler Klärschlamm pro Jahr. Davon wurde bisher etwa 80 % in die Landwirtschaft eingetragen. Durch die Gesetzesverschärfung von 2017 durfte aber nur noch ein Bruchteil der Schlämme in die Landwirtschaft fliessen. Der grosse Rest konnte z.T. in den bestehenden Abfallverbrennungsanlage mitverbrennt werden, aber da deren Kapazität nicht ausreichend war, um die ganze Menge zu entsorgen, musste ein beträchtlicher Teil der Schlämme zu sehr hohen Kosten an Verbrennungsanlagen im Ausland geliefert werden. Verständlich also, dass Betreiber:innen von Abwasserreinigungsanlagen nach Lösungen suchten, um autonom und finanziell unabhängig zu werden.
Lucas, was ist jetzt neu an dieser Anlage? Warum spricht man hier von einem Leuchtturmprojekt?
Lucas: Die Klärschlammverbrennungsanlage an sich ist eine gängige, moderne Anlage. In Italien ist diese Anlage aber die erste ihrer Art. Einerseits wird der Standort einer bestehenden Abfallverbrennungsanlage umgenutzt, die aus Altersgründen so oder so hätte rückgebaut werden sollen. Der bestehende Kamin der Anlage wurde durch einen neuen ersetzt, was wiederum weniger Umstände für Anwohner:innen verursacht. Und andererseits wird mit dem anliegenden Klärwerk eine Synergie erzielt, indem die dortigen Klärschlammfaultürme in Vergärungseinheiten umgewandelt wurden. Dort wird aus Küchenabfällen zuerst Biogas erzeugt und dieses – nach dessen Behandlung – in Biomethan umgewandelt.
Pionierhaft an diesem Projekt ist also das 360°-Denken, das dort vorgelebt wird.
Das bedeutet, dass es bei Sesto San Giovanni um mehr als eine Anlage geht. Paolo, wie schätzt du das ein?
Paolo: Die Anlage in Sesto ist eine Türöffnerin. Durch die Veröffentlichung des Projektes im Jahr 2019 wurde ein Modernisierungsschub eingeleitet. Immer mehr Anlagen folgten diesem Beispiel und wurden umgebaut. Meiner Meinung nach kann man von einer Klärschlammverbrennungswelle sprechen!
Wie meinst du das?
Paolo: Die Bedingungen sind jetzt anders. Es gibt eine neue Gesetzgebung, autonomes Entsorgen von Schlämmen wird durch neue Anlagen ermöglicht, der regionale Klärschlammüberschuss kann behoben werden. Und denkt man diese regionalen Entwicklungen auf Anlagenebene in einem nächsten Schritt auf die nationale Ebene, dann wird klar, wie sich das gesamte System der Klärschlammbehandlung in Italien verändert.
Thomas, du betreust bereits seit vielen Jahren Projekte in Italien: Was hat deiner Meinung nach diese Wende begünstigt? Und wie ist es uns gelungen mitzuwirken?
Thomas: Meiner Meinung nach sind es all die kleinen Entwicklungen, eine nach der anderen, die den Ball ins Rollen gebracht haben. Sesto San Giovanni war eine öffentliche Ausschreibung, die wir gewonnen haben und so bei der Transformation unterstützen konnten. Seit nun 30 Jahren sind wir in Italien tätig und haben uns in die italienische Kultur eindenken können: Wir arbeiten nicht in einem anderen Land und erwarten, dass Prozesse genau gleich ablaufen wie in der Schweiz. Aber das macht die Arbeit in anderen Ländern, wie wir es auch in Deutschland, Frankreich und anderen Ländern tun, gerade spannend. Hier braucht es Fingerspitzengefühl, gute Referenzen und eine grosse Portion Erfahrung.
Schlussendlich geht es bei unserer Arbeit in Italien wie auch in der Schweiz um die Ermöglichung, um das Vorwärtsmachen. Wir fragen uns, wie wir einfache, effiziente Lösungen anbieten können. Das setzt eine enge Zusammenarbeit mit unseren Kund:innen voraus, was unserem Selbstverständnis von einer visionären Firma entspricht, die gerne mit ihren Kund:innen zusammen Neues entwickelt. Auch wenn wir vielleicht keine echten Leuchttürme bauen.